Ohne Netz und doppelten Boden – über die Belastungen von Freiberufler*innen

Ich schreibe hier über Freiberufler*innen, die sich alleine am Markt behaupten müssen, ohne durch eine starke Standesvertretung gestützt zu sein. Angesprochen sind damit die Belastungen zum Beispiel von freiberuflichen Ergotherapeut*innen, Physiotherapeut*innen, Logopäd*innen, Trainer*innen, Grafiker*innen oder auch freien Journalist*innen.

An drei Beispielen schildere ich die Situation von diesen Selbständigen. Beschrieben werden die besonderen Belastungsfaktoren und Fallen, die in dieser Organisationsform als Einzelunternehmer*innen liegen.

Schließlich gibt es wieder Tipps, wie einer dauerhaften Erschöpfung entgegengewirkt werden kann.

1. Holger Meyer ist Journalist, er arbeitet für verschiedene Rundfunksender; seine Beiträge befassen sich mit humanwissenschaftlichen Themen. Die inhaltliche Arbeit macht ihm Spaß – genau diese Arbeit wollte er schon immer machen. Jedoch belastet es ihn, häufig unter Druck zu stehen und zu wenig zu verdienen. Die niedrigen Honorare zwingen Herrn Meyer, mehr Aufträge anzunehmen, als er in einem angemessenen Arbeitstempo schaffen kann. Außerdem neigt er dazu, dringende Arbeiten aufzuschieben. Ein weiterer finanzieller Druck ist, dass er Unterhalt für seine Tochter aus geschiedener Ehe zahlen muss und will. Holger arbeitet so seit 18 Jahren. In den ersten fünf Jahren seiner Berufstätigkeit passte sein Arbeitsstil sehr gut zu ihm und zu seiner Lebenssituation. In diesem Jahr wird er nun 40. Unregelmäßigkeit der Arbeit und schwankendes Einkommen werden zunehmend zur Belastung. Holger ist erschöpft und ausgelaugt.

2. Paula Brink hat eine Ergotherapiepraxis. Sie arbeitet neun bis zehn Stunden am Tag. Am Wochenende macht sie dann häufig noch ihre Buchhaltung. Sie hat sich schon häufig vorgenommen, nicht mehr so viele Patientinnen und Patienten anzunehmen. Wenn dann aber einer der verordnenden Ärzte persönlich darum bittet, kann sie nicht Nein sagen. Besonders empfänglich ist sie, wenn Ärzte damit schmeicheln, nur sie könne die Patienten*innen gut behandeln; dann sagt sie automatisch zu. Seit mehr als drei Jahren waren ihre wenigen Urlaube nie länger als eine Woche. Finanziell kommt sie über die Runden. Von ihrem Verdienst bleibt jedoch nicht viel übrig, weil sie eine sehr hohe Praxismiete zu zahlen hat. Seit drei  Monaten hat Paula nun starke Rückenschmerzen, sie schleppt sich jeden Morgen mühsam in ihre Praxis. Seit zwei Jahren hat Paula einen Freund, der zunehmend ungeduldig wird, weil Paulas Belastung ein Dauerzustand ist und sie deshalb nie Zeit für ihn hat. Paula merkt: So kann es so nicht weitergehen.

3. Karolin Bernhard, 48 Jahre alt, ist Trainerin für Soft Skills. Sie organisiert und leitet Workshops zu den Themen Kommunikation, Konfliktmanagement und Rhetorik. Für diese Arbeit bereist sie die ganze Republik. Sie verdient sehr gut. In den letzten Jahren merkt sie jedoch, wie ihre Energie schwindet, immer wieder vor Publikum zu stehen und eine „Performance“ abzuliefern, wie sie sagt. Karolin ist erfolgreich, fühlt sich aber nirgends zugehörig. Sie leidet darunter, immer wieder in fremden Hotelbetten übernachten zu müssen und gleichzeitig zu erfahren, wie ihre sozialen Kontakte immer weniger werden. Wenn Karolin einmal ein paar Tage frei hat, ist sie oft zu müde, um schon wieder zu kommunizieren. Sie fühlt sich einsam, und sie fragt immer öfter, wozu sie das alles macht.

In meiner Arbeit als Coach habe ich sechs verschiedene Gründe ausgemacht, die bei Freiberufler*innen zu Überbelastung führen können:

1. Pendeln zwischen Angst und Überforderung.

Viele Selbständige haben aufgrund mangelnder finanzieller Absicherung Angst, Aufträge könnten ausbleiben. So nehmen sie häufig mehr Arbeit an, als sie gut bewältigen können. Sie fühlen sich unter Druck, das führt zu Überforderung.

2. Unklare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit

Dies kommt besonders zum Tragen, wenn Selbständige zu Hause arbeiten. Aber auch sonst schaffen es viele nicht, von der Arbeit loszulassen. Tendenziell kreisen die Gedanken Selbstständiger viel mehr um die Arbeit, als dies bei Angestellten der Fall ist.

3. Mangelnde Überschaubarkeit der finanziellen Situation

Vom erreichten Umsatz gehen die Betriebsausgaben, Steuern und Sozialversicherungen wieder ab. So ist es manchmal schwer abschätzbar, wieviel Geld tatsächlich als Gewinn übrigbleibt. Um sich einen verlässlichen Überblick zu verschaffen, muss viel Arbeit investiert werden. Dennoch kommt es oft anders als erhofft.

4. Viele Aufgaben liegen außerhalb der Kernkompetenz von Freiberufler*innen

Freiberufler*innen müssen die Akquise betreiben, Buchhaltung machen und auch noch ihre eigene IT-Abteilung sein. Viele quälen sich mit Tätigkeiten, die nicht ihren Fähigkeiten oder Interessen entsprechen.

5. Kein bezahlter Urlaub

Als Selbständige eine Urlaubsreise zu machen heißt, eine Reise finanzieren und den Verdienstausfall kompensieren zu müssen. Deshalb machen sie nur selten oder gar keinen Urlaub.

6. Fehlende Zugehörigkeit

Freiberufler*innen beklagen häufig, sich nicht einem Team zugehörig zu fühlen, und empfinden sich damit nur als Satelliten. Kontakte mit Kolleg*innen müssen immer organisiert werden.

Was können Selbständige tun, um chronische Erschöpfung zu verhindern? 

1. Weder aus einer Angst heraus noch in Überforderung ist Steuerung gut möglich. Planen Sie, wie viel Sie arbeiten müssen, um normal ausgelastet zu sein. Wenn das nicht möglich ist, versuchen Sie, einen Moment der Ruhe herzustellen, und fragen Sie sich, wer plant: Die*der Ängstliche, die*der alle Aufträge annehmen möchte, um sich abzusichern. Die*der Überforderte, die*der alles nur noch loswerden möchte oder die*der „Vernünftige“, die*der die eigene Kraft, das Freizeitbedürfnis und den Geldbedarf miteinander abwägt, um alle Bedürfnisse in Balance zu halten.

2. Überlegen Sie auch, wann Sie arbeiten und wann Sie Freizeit haben möchten. Gestalten Sie die Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit: Schreiben Sie auf, was Sie am Tag geschafft haben und was Sie am nächsten Tag erledigen möchten.

3. Versuchen Sie Aufgaben, bei denen Sie sich nicht kompetent fühlen und die Sie nicht gerne machen, zu delegieren, auch wenn das Geld kostet. Tun Sie möglichst nur, was Ihre eigentlichen Aufgaben sind. So kann Sie beispielsweise externe Buchhaltung von lästiger Arbeit befreien und schnelleren Überblick über Ihre Finanzen verschaffen. Wenn Sie sich das noch nicht leisten können, lassen Sie sich von entsprechenden Stellen beraten, in Berlin beispielsweise bei: http://www.beratungsstellen.berlin/existenzgruendung.html.

4. Machen Sie Urlaub! Wenn Sie meinen, Sie könnten sich auch eine günstige Urlaubsreise nicht leisten, bleiben zu Hause, Sie finden auch dort Erholung. Burnout können Sie sich erst recht nicht leisten. Wenn Sie nach den ersten zwei bis drei Gründungsjahren immer noch keinen Urlaub machen können, weil das Geld nicht reicht, muss ihr Geschäftsmodell überarbeitet werden, dann braucht es eine Veränderung.

Ohne Netz und doppelten Boden – über die Belastungen von Freiberufler*innen