Dieser Artikel von mir ist in dem Online-Magazin Psylife erschienen.
Hast du dich in deiner Rolle als Psychotherapeut*in schon mal hilflos gefühlt? Oder dich gefragt, was deinen Klient*innen helfen könnte, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen? Hilflosigkeit ist ein ungeliebter emotionaler Zustand, den wir eigentlich gerne vermeiden – dem wir aber in der Psychotherapie häufig begegnen.
Martin, ein 45-jähriger Rechtsanwalt, gerät wieder und wieder in Streit mit seiner 14-jährigen Tochter. Meike hält sich für dick und isst immer weniger. Martin hat Angst, dass sie magersüchtig ist. Alles hat er versucht – von einfühlsamen Gesprächen bis hin zur Androhung von Zwangsernährung – und weiß nun nicht mehr weiter. Im aktuellen Streit bringt Martin seine Tochter mit Gewalt ins Auto und fährt sie in die Notaufnahme. Nach dreistündigem Warten werden beide nach Hause geschickt.
Carolyn, 29, ist seit zwei Jahren als Psychotherapeutin tätig und behandelt seitdem Frau K. Die Klientin leidet unter Depressionen, war auf dem Weg der Besserung und hat nun einen Rückfall. Sie ist antriebslos, empfindet keine Freude mehr und hat mit dem Sport aufgehört. Carolyn ist ratlos. Sie zweifelt an sich selbst als Therapeutin und wird ärgerlich auf ihre Klientin, deren Handeln sie als Verweigerung erlebt. Schließlich beendet sie die Therapie wegen „mangelnder Mitwirkung“ von Frau K.
Ein hilfloser Umgang mit Hilflosigkeit
Den beiden Beispielen ist gemeinsam: Die Beteiligten erleben Hilflosigkeit – und tun alles, um diese zu vermeiden. Das ist nachvollziehbar. Die Bewältigungsversuche dienen vordergründig dem Ziel, das Problem, das hilflos macht, zu lösen. Tatsächlich aber erfüllen sie den Zweck, Unangenehmes nicht ertragen zu müssen. Hilflosigkeit konfrontiert uns mit Gefühlen wie Angst, Aggression und Trauer. Wir erleben Kontrollverlust. Wir fühlen uns unzulänglich und unser Selbstwert ist angegriffen. Das alles ist unangenehm und schwer auszuhalten. Natürlich wünschen wir uns, dass die starken Gefühle vergehen und wir Kontrolle gewinnen. Und handeln entsprechend.
Für Martin ist es unerträglich, mit ansehen zu müssen, dass es seiner Tochter zunehmend schlechter geht. Macht ausüben erscheint ihm besser, als gar nichts zu unternehmen. Carolyn fühlt sich in ihrer Professionalität verunsichert und handlungsunfähig. Anstatt sich mit der eigenen Ohnmacht zu konfrontieren, beendet sie den Therapieprozess mit ihrer Klientin.
Strategien zur Vermeidung von Hilflosigkeit
In meiner Arbeit und in meinem privaten Umfeld begegnen mir häufig folgende Strategien im Umgang mit Hilflosigkeit:
- Machtausübung lässt sich beispielsweise in Kindererziehung, Führung und Politik beobachten. Sie kann als Ausweg erscheinen, wenn uns in unserer Kraftlosigkeit oder Ratlosigkeit nichts mehr einfällt. Der Erfolg währt in der Regel nur kurz, denn Machtausübung schadet der Beziehung. So erlebt Meike ihren Vater vermutlich nicht als Unterstützer, sondern als Gegner. Damit ist ihr Vertrauen gestört. Essen wird sie nach dieser Intervention nicht mehr als zuvor.
- Aktionismus ist Tun um des Tuns willen. Wer nicht mehr weiter weiß, läuft Gefahr, als inkompetent betrachtet und ausgewechselt zu werden. Das gilt es zu verhindern! Also erweckt man lieber den Anschein, zu wissen, was zu tun ist – und macht einfach irgendetwas.
- Expertentum begegnet der Hilflosigkeit mit Einsatz von Wissen. In meinem Fachgebiet, der Psychotherapie, wissen wir viel darüber, wie wir Menschen in ihrer psychischen Gesundheit unterstützen können. Ebenso braucht es Demut und das Eingeständnis, dass wir über unsere Klienten nichts wissen, bevor wir ihr Leben mit ihnen gemeinsam erforscht haben. Die Psyche ist komplex, und jeder Mensch ist anders. Für jeden gilt es, auf der Grundlage unserer Ausbildung eine individuelle Therapie zu ersinnen. Dabei müssen wir Nicht-Wissen aushalten. Psychotherapie ist Suchen, manchmal Finden und selten ein Prozess von Sicherheit und Wissen.
- Schuldzuweisungen sind besser auszuhalten als Ohnmacht. Indem wir uns selbst oder anderen die Schuld geben, glauben wir, ein (vermeintliches) Fehlverhalten berichtigen, eine hilflos machende Situation verhindern und Kontrolle wiedererlangen zu können. Carolyn wendet die Strategie zweifach an: Zunächst macht sie sich selbst verantwortlich, anschließend ihre Klientin. Das verhindert, gemeinsam mit ihrer Klientin die schwierige Situation zu durchleben; sich selbst einzugestehen, nicht zu wissen, wie sie ihrer Klientin helfen kann; mit diesem Nicht-Wissen die Klientin in deren Hilflosigkeit nicht allein zu lassen – und ihr vielleicht gerade dadurch zu helfen.
Warum es hilfreich sein kann, Hilflosigkeit bewusst wahrzunehmen
Die Beispiele zeigen: Ausweichstrategien sind nachvollziehbar. Sie können kurzfristig helfen, die mit Hilflosigkeit verbundenen Gefühle – Angst, Wut oder Trauer – auszuhalten oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Gleichzeitig verhindern sie meistens eine dauerhafte Problemlösung. Denn indem wir Hilflosigkeit vermeiden, isolieren wir uns oder lassen betroffene Menschen alleine.
Martin entfernt sich von seiner Tochter, indem er ihr gegenüber eine väterliche Machtposition einnimmt. Könnte er sich und auch ihr seine Hilflosigkeit eingestehen, dann könnten beide ihre Empfindungen miteinander teilen. Ebenso könnte es für Carolyns Klientin tröstlich und heilsam sein, wenn ihre Therapeutin das Gefühl, welches sie aktuell erlebt, zuerst einmal mit ihr teilt.
Menschen, die ausweichen, können ihre mit Hilflosigkeit verbundenen Gefühle nicht nutzen. Gefühle ermöglichen es uns, Informationen über unser inneres Geschehen zu gewinnen und unser Verhalten entsprechend zu steuern. Blenden wir aber unsere Gefühle aus, dann haben wir auch keinen Zugriff auf deren Weisheit.
Hilfreiches im Umgang mit Hilflosigkeit
Hilflosigkeit ist ein zutiefst verunsichernder Zustand, in dem sich kein Mensch befinden möchte. Mithilfe von Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Vertrauen können wir als Berater*innen und Therapeut*innen jedoch lernen, Hilflosigkeit bewusst wahrzunehmen, zu halten und auszuhalten. Dies ermöglicht es, auch unsere Klient*innen in der Zuversicht zu unterstützen, dass sie diesen Zustand durchleben und daran wachsen können.
- Achtsamkeit ist Gewahrsein, das kultiviert wird, indem wir aufmerksam sind: mit Absicht, im gegenwärtigen Moment und ohne Beurteilung. Wir üben Achtsamkeit, indem wir unsere Körperempfindungen, unsere Gedanken und Gefühle bewusst wahrnehmen, ohne diese zu beurteilen und ohne etwas zu tun. Mit Achtsamkeit können wir bemerken, dass wir uns hilflos fühlen. In der Regel ist uns dieses Gefühl so unangenehm, dass wir sofort in eine Ausweichstrategie gehen. Achtsamkeit jedoch hilft uns, innezuhalten, nichts zu tun und die wahrgenommene Hilflosigkeit akzeptierend zu halten.
- Selbstmitgefühl umfasst drei Aspekte: Achtsamkeit, geteilte Menschlichkeit und Selbstfreundlichkeit. Geteilte Menschlichkeit bedeutet, sich bewusst zu machen, dass Hilflosigkeit – wie alles Unangenehme – eine allgemein menschliche Erfahrung ist. Selbstfreundlichkeit heißt, sich selbst Trost zu spenden. Sich nicht zu kritisieren und zu verurteilen, sondern freundlich und liebevoll mit sich selbst zu sprechen.
So könnte Martin bewusst registrieren: „Ich weiß nicht mehr weiter“ und sich zugestehen: „Ich kann es schwer ertragen, dass Meike kaum isst.“ Er könnte sich klar machen, dass alle Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen, ähnlich fühlen. Und sich selbst ermutigen: „Ich habe schon einige schwierige Situationen im Leben durchgemacht, auch mit Meike, auch diese hier werden wir durchstehen.“
- Vertrauen kann uns in Momenten der Hilflosigkeit trösten. Wir können es entwickeln, indem wir nachvollziehen, wann es sich in der Vergangenheit als stimmig erwiesen hat. Vertrauen speist sich aus der Erfahrung, dass es auch nach einer Phase der Hilflosigkeit immer wieder weiter geht.
- Und schließlich: Alles, was uns widerfährt, können wir zu einer Lernerfahrung machen. So auch Hilflosigkeit. Sie gibt uns die Chance, zu reifen, weiser zu werden und unser Bewältigungsrepertoire zu erweitern. So kann selbst die tiefste Hilflosigkeit einen Sinn haben.
Souveräner werden im Umgang mit Hilflosigkeit
Alle Umgangsweisen lassen sich üben: Achtsamkeit können wir trainieren und Selbstmitgefühl lernen. Die Sinnhaftigkeit von Hilflosigkeit zu erkennen, lässt sich als eine Haltung dem Leben gegenüber kultivieren. Diese Umgangsformen zu üben, kann uns helfen, Vertrauen in uns selbst und das Leben zu stärken.
Wir können lernen, souveräner mit Hilflosigkeit umzugehen. Das erfordert, sich die eigene Verletzlichkeit bewusstzumachen und Kontrollverlust zu akzeptieren. Ausweichstrategien wahrzunehmen, ohne ihnen zu folgen. Präsent zu sein, ohne sich überwältigen zu lassen. All das kann uns helfen, aus der Hilflosigkeit heraus handlungsfähig zu werden.
Zum Weiterlesen:
Germer, Christopher (2011). Der achtsame Weg zur Selbstliebe. Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. Freiburg: Arbor.
Kabat-Zinn, Jon (2013). Gesund durch Meditation. Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR. München: O.W. Barth Verlag.
Neff, Kristin (2012). Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. München: Kailash Verlag.